Humboldt

Humboldt, das war nicht nur ein Arbeitgeber. Humboldt bestimmte die Farbe, Geräusche und Gerüche in den umliegenden Orten. Braunkohleverarbeitung war schmutzig und staubig, bei Regen auch schmierig. Vor jeder Schicht nahmen die Gruben und Hallen saubere Arbeiter entgegen und spiehen sie nach getaner Arbeit als schwarze Männer wieder aus. Eine Bergmannsuniform gab es nur zu Festtagen, im Alltag gab es nur einheitlich schmutzige Gesichter, die sich gemeinsam über das wohlverdiente Feierabendbier beugten. Mit dabei auch die, die schon vor der Schicht wieder umgekehrt waren und sich der Einfachheit halber nur das Gesicht schmutzig gemacht hatten.

Nicht nur die Männer waren schwarz, auch die Dächer und  Fensterbänke rund um Humboldt waren mit dicken Staubschichten belegt. Die Straße zwischen Thüste und Wallensen führte vorbei an riesigen Aschehaufen und war ein schlaglochreicher, kohlestaubiger Schotterweg. Eine Sonnebrille und ein Taschentuch vor dem Mund war dem Radfahrer wohl angeraten.

‚Man hatte ständig was im Auge, wenn man dort fuhr.’

Sechs Schornsteine verheizten den Brikettstaub und ihre schwarzen Rauchfahnen zeigten an, wie das Wetter werden würde. Gerade aufsteigende braunschwarze Säulen ließen auf schönes Wetter schließen. Bei Ostwind im Winter wurde der Schnee schwarz und noch heute fällt die Erde in Thüste nicht krümelig braun vom Spaten, sondern erinnert mit ihrem dicken satten Schwarz an die besondere Geschichte des Ortes.

Geschichte hin oder her – die Hausfrauen zu Zeiten von Humboldt hatten andere Sorgen. Die Wäsche rauszuhängen war ein Wagnis der besonderen Art, denn stand der Wind ungünstig wurde sie ihnen auf der Leine nicht trocken sondern schwarz. 
Der Fußballplatz direkt hinter der Fabrik war ebenfalls ein Erlebnis für sich. Schwarz ist die Farbe des Schiedsrichters. Konsequent schwarz wurden in Thüste auch die Mannschaften im Laufe des Spiels. Nur das Geschimpfe über den ‚unglaublichen Dreck’ unterschied die auswärtigen Spieler dann noch von der einheimischen, farblich spielten sie in einer Liga.
Neidisch waren die Auswärtigen nur auf den ortseigenen ‚Fritz Walter’ der Thüster Mannschaft, einen junger Thüster der seinen Namen mit dem damals höchst populären Fußballspieler der Nationalmannschaft teilte und dadurch „bekannt war wie ein bunter Hund.“
Sonntags waren die Fußballspiele. Sonntags, wenn es ruhig war, waren sie auch besonders gut zu hören: die Geräusche der Gewerkschaft Humboldt. Tag und Nacht, Samstag und Sonntags nur besonders gut, hörte man das gleichförmige ‚Klack Klack’ der Brikettpressen. Ruckartig wurden die Briketts über Förderbänder geschubst, um polternd und rumpelnd in die Lagerhalde oder auf die Lastwagen zu fallen.

Nicht der Besuch des Teufels brachte einen Schwefelgeruch nach Thüste. Der Schwelbrand in einer Abfallhalde in der Grube Humboldt war es. Hier glühte und dampfte, qualmte und stank es über mehrere Jahre. Alle menschlichen Löschversuche blieben vergeblich. Erst als die Natur selbst beschloss, dem ein Ende zu setzen verschwand der typische Hauch von Humboldt aus dem Tal.

Die Arbeiter kamen mit dem Fahrrad oder zu Fuß zur Arbeit und das war wohl auch gut so. In den Pausen wurde nicht nur Skat gespielt. Es gab auch viel Bier und keine störenden Bestimmungen über Alkoholgenuss am Arbeitsplatz. 
„Da ist so manch einer halb angeschickert mit dem Fahrrad nach Hause gefahren.“ Und besonders am Ende der Woche wenn es die Lohntüten mit Bargeld darin gab, baute der ordentliche Thüster diesen kleinen Rausch gleich nach der Arbeit gründlich aus.
Beliebt waren auch die Humboldtfeste, die in Wallensen im Ratskeller gefeiert wurden, eine der wenigen feierlichen Gelegenheiten bei denen sich Wallenser und Thüste mischten.

Bei Humboldt wurde viel unter der Hand ‚organisiert’. In einer Zeit reicher Bautätigkeit ließ sich viel von dem gebrauchen, was dort täglich in großen Mengen in die Fabrik geliefert wurde. In vielen Zaunpfählen um die schmucken Eigenheime konnte man bei genauem Hingucken Schienen wiedererkennen. LKWs mit Zement fuhren vorne durch die Tore der Gewerkschaft hinein und bald darauf, immer noch voll beladen, durch die hintern Tore wieder hinaus.

Und es gab sogar den passenden Spruch zu diesen interessanten Vorgängen.

„Humboldt is n rieken Kerl. Kann vieles missen, darf nur nicht alles wissen.“