Fremde

Flüchtlinge

Nach dem Krieg überfluteten 800 Vertriebene das kleine Thüste. Aus ihrer Heimat in Schlesien und Ostpreußen geflohen, meist völlig mittellos kamen sie mit dem Zug, wurden zunächst in das heute abgerissene Arbeiterhaus gegenüber Harstrichs Hof gesteckt und danach ‚zwangseinquartiert‘ bei den Bauern. Als Gegenleistung für Essen und Wohnung mussten die Vertriebenen auf den Höfen mitarbeiten. Oft waren es Stadtmenschen, die von Landwirtschaft in etwa soviel verstanden wie der durchschnittliche Thüster Bauer von Astrophysik und die nun mit den harten Realitäten des Landlebens konfrontiert wurden. 

Niemand freute sich über die ‚Pollacken‘, schon gar nicht, wenn man ihnen auch noch unfreiwillig Zimmer zur Verfügung stellen musste. Es werden Geschichten erzählt, dass die Eigentümer in ihren Zimmern der Holzfußboden mit der Axt aufhackten, nur damit keine ‚Pollacken’ dort einziehen konnte. War es nicht zu verhindern, wurden die ungebetenen Gäste oft schikaniert, um es ihnen so ungemütlich wie möglich zu machen und sie so schnell wie möglich zum Ausziehen zu bewegen. 

„Wir waren die Polen. Mit den Jungen haben wir dann schnell Freundschaft geschlossen, aber die Alten blieben auf Distanz. Das waren lange Zeit zwei ganz verschiedene Welten in Thüste.“ 

„Wir waren Flüchtlinge. Uns haben die gar nicht gesehen, die haben durch uns durchgeguckt.“ 

„Die haben immer unser Schwein freigelassen, wenn wir gerade nicht da waren.“ 

Nach und nach entspannte sich die Wohnsituation. Es wurden Häuser, ja ganze Siedlungen gebaut und die Flüchtlinge fanden auch Arbeit, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die günstigen Baukonditionen in der ‚Storchensiedlung‘ für Kinderreiche in Thüste, die Bergmannssiedlung für die Arbeiter von Humboldt in Wallensen milderten nach und nach auch den Dichtestress in Thüste, so dass ein entspannteres Miteinander möglich wurde.

Italiener

Am 20. Dezember 1955 wurde das deutsch-italienische Anwerbeabkommen unterzeichnet und damit kam Italien auch nach Thüste. Oder ‚die Ittacker‘, wie der Thüster weniger vornehm sagte. Italienische Arbeiter waren beschäftigt bei Humboldt und bei der Firma Bock in Duingen. Sie fanden Unterkunft in den Arbeiterwohnungen von Humboldt, heute zu modernen Appartements in der Ferienanlage Nietsch umgebaut. 

Die Einheimischen reagierten zurückhaltend und vorsichtig auf diesen Kulturschock. War Thüste auch im 18. Jh. unter französischer Besatzung gewesen, war der Thüster doch den Umgang mit Südländern keineswegs gewohnt. „Die Ittacker“ sagten die alten Thüster, nicht richtig fremdenfeindlich, aber deutlich irritiert. 
Wie zuvor schon bei den ‚Pollacken‘ war es für die Jugend leichter miteinander in Kontakt zu kommen. Besonders weil die hübschen jungen Italiener zwar mittellos aber mit reichlich Charme und gutem Aussehen im Gepäck in Thüste ankamen. Mit dem Satz „Wir koche eine typisch italienische Spaghetti fur euch“ war der Bann gebrochen und der Grundstein für einen lustigen Abend mit viel Mädchengekicher und italienischem Frohsinn gelegt. Nur die Thüster Männer waren nicht begeistert. 

Tragisch endete ein Abend im Niedersachsenkrug in Wallensen. Eine Gruppe jungverheirateter Paare hatte sich dort getroffen ebenso wie die Italiener. Doch nach und nach ergaben sich andere Gruppierungen. Die deutschen Männer interessierten sich mehr für das Bier, die italienischen Männer mehr für die Frauen, die gelangweilt in die Luft guckten und über die Abwechslung dankbar waren. Als sich ihren Männern diese Entwicklung zwischen zwei Bieren offenbarten, warfen sie die Italiener kurzerhand aus der Kneipe hinaus. 
Eine Frage der Ehre, dass die das nicht auf sich sitzen lassen konnten. Sie warteten vor dem Niedersachsenkrug, bis die anderen hinauskamen und dann kam es wie es kommen musste. Ein Wort gab das andere, eine Schlägerei brach aus. Ein Messerstich tötete einen der jungen Ehemänner. 

Mit dem Niedergang von Humboldt und dem Verlust der Arbeitsplätze verschwand auch das italienische Temperament wieder aus Thüste.